Lesevergnügen
Die erste Nacht in meinem neuen 2qm Zuhause
Meine Sorgen zwischen Platz- und Nachtangst haben sich glücklicherweise als nicht real erwiesen. Ich fühle mich sonderbarer Weise fast sicherer als in meiner Wohnung, habe genügend Platz und alles was ich brauche rollt mit. Ein neues befreiendes Gefühl, wo sich statt der erwarteten Angst eine ungeahnte Ruhe ausbreitet. Es fühlt sich richtig an und ich genieße das Gefühl, dass mein Zuhause direkt hinter meinem Fahrrad rollt und für die ersten 20km dieses Tages sogar nahezu gleiten wird.
Doch bevor es weiter rollt, werde ich noch mit einem leckeren Frühstück von Foka beglückt. Gestärkt kann die Reise beginnen - oder auch nicht - so schnell sie begonnen hat, ist sie auch schon wieder vorbei - 2 Meter nach Start der Vollstopp. Der Bremsklotz hängt nun noch dichter auf der Felge - so dicht, das Fahren unmöglich wird.
Wäre es mir unterwegs passiert, wäre das vermutlich das Tages-Aus gewesen - doch das Glück scheint mit mir zu reisen.
Ich bin auf einer Farm mit kreativen handwerklichem Geschick gelandet - und so nimmt sich Peter (der Vater von Foka) meinen beiden Weggefährten an und findet schnell das Problem. Durch das Gewicht des Fahrradwohnwagens wird das Hinterrad mehr nach links gezogen und blockiert dadurch den Bremsklotz. Mit der alten Konstruktion an meinem Rad kann es nicht weitergehen - eine neue muss her. Doch wo eine neue Anhängerkupplung kaufen - mitten der Natur.
Ich sollte gleich an diesem Morgen etwas lernen. Peter zeigte mir sein Werkstatt-Imperium. Man kann wirklich Imperium sagen - eine riesige neue Halle voll mit Werkzeugen, Traktoren, alten wunderschönen filmreifen Autos und jede Menge Ersatzteilen. Sprachlos und andächtig schaue ich zu, wie Peter innerhalb kürzester Zeit mit Hilfe zweier für meine Verhältnisse riesigen Unterlegscheiben und ein paar Schrauben eine neue Halterung etwas weiter oben am Rahmen zaubert. Durch die neue Position am Rahmen kann das Hinterrad nicht mehr verzogen werden. Was für ein Glück. Fasziniert und dankbar für diesen geschickten und kreativen Pragmatismus kann es losgehen - und diesmal richtig. Die ersten 15km komplett ohne Batterie und in totaler Euphorie über mein neues Anhänger-Gefühl. Stolz stellt sich ein - ha wer sagt es denn - alles gleitet über die Straßen - selbst ohne E-Rad-Unterstützung.
Kilometer 20km - ich höre ein sonderbares schleifendes Geräusch - blicke nach hinten und sehe erste Annäherungsversuche meines Schutzblech mit der Anhängerkupplung. Kurze Überlegung - braucht man wirklich ein ganzes Schutzblech? Ein 3/4 Schutzblech reicht bestimmt auch - also das Schutzblech mit einer Zange Stück für Stück abgerissen und weiter gehts - 100 Meter weiter erneut ein sonderbares Geräusch, gefolgt von einem sofortigen Stopp - Nun hat auch der Reifen seine Zuneigung für die Anhängerkupplung entdeckt und sich mit dieser vereint. Wie kann das sein - gerade war doch noch genügend Platz - erst jetzt fällt mir auf, dass ich ja 20km ohne Schutzblech Liasion gefahren bin und sich im Gesamtsystem etwas verändert haben muss - und ja der Übeltäter ist diesmal die Achse, die Halterung ist abgesackt und hat dadurch zu einer Verkantung geführt. Was tun? Keine Mensch weit und breit - in der Ferne ein Bauernhof - meine Rettung - vielleicht hat auch dieser Bauer eine Werkstatt und kann mir helfen - noch bevor ich mein Rad dort hin schieben kann - kommt ein älterer Herr auf seinem Fiets vorbei und bietet seine Hilfe an. Gemeinsam geht es weiter Richtung Bauernhof und meiner Rettung. Mit Kabelbinder und eigener Tapekonstruktion kann die Reise weiter gehen.
Aufatmen - das wird zwar nicht dauerhaft halten, aber vielleicht reicht es ja bis zur Insel und dort gibt es bestimmt einen Radladen.
Ein paar Kilometer später, das Plastik leistet gute Dienste - der Kabelbinder hält. Dafür hat sich ein anderes Stück Metall überlegt, dass es für heute genug hat und so verabschiedet sich auf Kilometer 30 mein Fahrradständer.
Schneller als mir lieb ist, hat mein Kopf die Leinwand ausgerollt und zeigt den Dokumentarfilm „Dekonstruktion eines Drahtesels“.
Glücklicherweise kann man auch ohne Fahrradständer fahren - auf Pausen verzichte ich aber lieber. Mein Bedarf an Zwischenfällen ist für heute gesättigt und ein reißender Kabelbinder ist keine Option.
Eine gute Entscheidung - ich schaffe es tatsächlich ohne weiter Unterbrechungen zur Fähre.
Die Natur auf den letzten 15km entschädigt bereits für alles. Ich fahre mit Rückenwind im strahlenden Sonnenschein durch den traumhaft schönen National Park Lauwersmeer mit endlosen Wiesen, im Wasser badenden Pferden und Rindern. Auch die Überfahrt auf der Fähre ist ein unbeschreibliches Gefühl. Ich stehe gemeinsam mit meinem Zuhause auf einem Schiff und werde über das Wasser getragen. Der Wind weht durch meine Haare und über das geschwungene Holz meines Wegbegleiters. Ich blicke in die Ferne und erahne eine nahe Weite - in mir und um mich herum.